Als Musiker, Journalist und Karl-May-Fan habe ich mir lange überlegt, wieso zu Karl Mays Gedicht Weihnachtsabend keine Melodie überliefert ist. Eigentlich ist es erstaunlich, daß Karl May, der ja auch komponierte, sein Weihnachtsgedicht nicht vertonte. Irgendwann habe ich begriffen, daß er die Melodie von einem besseren Musiker übernommen hat: Von Ludwig van Beethoven - die Melodie zu Schillers Ode an die Freude.
Weihnachtsabend
Text: Karl May, als Häftling in Zwickau 1865-68, Melodie nach Beethovens Ode an die Freude
Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist;
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ!
Jubelnd klingt es durch die Sphären,
Sonnen kündens jedem Stern,
Weihrauch duftet auf Altären
Glocken klingen nah und fern.
Tageshell ist's in den Räumen
Alles athmet Lust und Glück
Und an bunt behangnen Bäumen
Hängt der freudetrunkne Blick.
Fast ist's, als ob sich die helle
Nacht in Tag verwandeln will;
Nur da oben in der Zelle
Ist's so dunkel, ist's so still.
Da erbraußt im nahen Dome
Feierlich der Orgel Klang
Und im majestätschen Strome
Schwingt sich auf der Chorgesang:
Darum gilt auch Dir die Freude,
Die uns widerfahren ist;
Denn geboren wurde heute
Auch Dein Heiland Jesus Christ!“
"Weihnacht! Welch ein liebes, inhaltsreiches Wort! Ich behaupte, dass es im Sprachschatz aller Völker und aller Zeiten ein zweites Wort von ebenso tiefer wie beseligender Bedeutung weder je gegeben hat noch heute gibt."
Mit diesen Worten beginnt Karl Mays Roman Weihnacht! Fantasievoll verbindet er Jugenderlebnisse in Oberfranken und Böhmen mit späteren Heldentaten als Old Shatterhand an der Seite Winnetous im Wilden Westen.
Das Bindeglied zwischen seinen Jugenderlebnissen und dem Wilden Westen ist dabei das Gedicht Weihnachtsabend, das Karl May für einen Gedichtwettbewerb als Schüler "verbrochen habe".
Mit "verbrochen" deutet er die wirkliche Entstehungsgeschichte des Gedichts unfreiwillig an.
Karl May verbüßte zwischen 1865 und 1868 eine Haftstrafe wegen Diebstahls, Betrugs und Hochstapelei in Zwickau. Dort schrieb er als "Verbrecher" sein Weihnachtsgedicht. Er berichtete später autobiographisch über diese Zeit: "Jetzt nun kam Aufseher Göhler infolge seiner Beobachtung meines seelischen Zustandes auf die Idee, mich in sein Bläserkorps aufzunehmen, um zu sehen, ob das vielleicht von guter Wirkung auf mich sei. Er fragte bei der Direktion an und bekam die Erlaubnis. Dann fragte er mich, und ich sagte ganz selbstverständlich auch nicht nein. Ich trat in die Kapelle ein. Es war gerade nur das Althorn frei. Ich hatte noch nie ein Althorn in den Händen gehabt, blies aber schon bald ganz wacker mit. Der Aufseher ... freute sich noch mehr, als er erfuhr, daß ich Kompositionslehre getrieben habe und Musikstücke arrangieren könne. Er meldete das sofort dem Katecheten, und dieser nahm mich unter die Kirchensänger auf. Nun war ich also Mitglied sowohl des Bläser- als auch des Kirchenkorps und beschäftigte mich damit, die vorhandenen Musikstücke durchzusehen und neue zu arrangieren. Die Konzerte und Kirchenaufführungen bekamen von jetzt an ein ganz anderes Gepräge."1
Zu Karl Mays Gedicht Weihnachtsabend ist leider keine Melodie überliefert. Wieso hat er, der ja auch komponierte, sein Werk nicht selbst vertont? Vielleicht hat Karl May die Melodie von einem besseren Musiker übernommen: Von Ludwig van Beethoven - die Melodie zu Schillers Ode An die Freude.
Damit Mays Text mit Beethovens Musik als Weihnachtslied gesungen werden kann, hat May das Versmaß von Schillers An die Freude in Weihnachtsabend einfach kopiert.
Die Geschichte von einem Häftlingschor, der an Weihnachten diesen Freudengesang einstudiert, hat genug Potential für Opern, Musicals oder Fernsehfilme.
Denkbar sind auch Aufführungen nach Karl Mays Haftzeit. Er wurde wegen guter Führung vorzeitig entlassen, war dann u. a. als Chorleiter tätig und hatte sicher Bedarf an eingängigen Texten und Melodien für Laienchöre.
Das Gedicht Weihnachtsabend erschien dem Schriftsteller so wertvoll, daß er es in vielen Werken einsetzte, eine Kürzung oder Umarbeitung war dabei für ihn kein Problem.
Wenn man die 10 Strophen streicht, die mit dem Tod eines Gefangenen und weniger mit der Weihnachtsgeschichte zu tun haben, harmonieren Musik und Text ganz im Sinne von Ludwig van Beethoven.
Von den insgesamt 16 Strophen finden sich zwei Strophen im Kolportage-Roman Waldröschen (1882), eine erweiterte Fassung des Gedichts mit 17 Strophen verwendet Karl May in Der verlorne Sohn (1884), vier Strophen finden sich in der Handschrift In der Heimath (1891/92) und eine abgewandelte und verkürzte Fassung ohne die Häftlingsstrophen verwendet May in Weihnacht! (1897)
Karl May war ein großer Beethoven-Fan. So verschickte er im Jahr 1898 an seinen Freund Max Welte in Dresden eine Ansichtskarte mit dem Beethoven-Denkmal in Wien.
Speziell die neunte Sinfonie des großen Tonsetzers hatte es ihm angetan. Karl Mays zweite Frau Karla berichtet über ein gemeinsames Konzerterlebnis: "Beethoven vertrug er nicht im Dilettantenkreis, da verschwand er, aber im Sinfoniekonzert zitterte er bei der Neunten wie Espenlaub, und einmal wurde er regelrecht grob zu Damen, die in der Pause nach einer Beethovensinfonie von Weinabziehn zu sprechen wagten."2
Auch Karl Mays Vorliebe für die Werke Schillers, insbesondere für die Ode "An die Freude", ist gut dokumentiert. May lässt den Orient schillern und seine Westernhelden frei nach Schiller dichten - im schönsten sächsischen Dialekt: "Endlich, endlich ist er in Erfüllung gegangen, der schöne Versch aus der Freude, schöner Götterfunken: Deine Zauber binden wieder, Was der Unverschtand geteelt; Frank und Jemmy sind nun Brüder; Unsre Feindschaft ist geheelt!"3
"Es war nur heißer Wein, ohne alles Gewürz, den sie jetzt kosteten, aber er brachte sie dem Seid umschlungen, Millionen! sehr nahe; sie tranken bereits nur noch aus einem Glase, und der Mutesselim wischte sogar seinem Agha einmal den Bart ab, als einige Tropfen der herrlichen Arznei sich in den Wald desselben verlaufen hatten."4
Weihnachtsabend (Originalfassung)
„Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist;
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ!“
Jubelnd klingt es durch die Sphären,
Sonnen kündens jedem Stern,
Weihrauch duftet auf Altären
Glocken klingen nah und fern.
Tageshell ists in den Räumen
Alles athmet Lust und Glück
Und an bunt[behangnen] Bäumen
Hängt der freudetrunkne Blick.
Fast ists, als ob sich die helle
Nacht in Tag verwandeln will;
Nur da oben in der Zelle
Ists so dunkel, ists so still.
Unten zieht des Festes Freude
Jetzt in alle Herzen ein;
Droben ist mit seinem Leide,
Seinem Grame er allein.
U[Dru]nten wogt es durch die Gassen
Lebensfrisch und lebensroth
Droben kämpft mit leichenblassen
Angesicht er mit dem Tod
Zitternd lehnt er an der Mauer
Von des Fiebers Angst umkrallt
Und es fliegen tiefe Schauer
Durch die zuckende Gestalt
Seine bleichen Lippen beben
Fieberhaft erglüht das Hirn,
An den kalten Eisenstäben
Kühlt er seine heiße Stirn
Betend faltet er die Hände,
Hebt das Auge himmelan:
„Vater, gieb ein selig Ende
Daß ich ruhig sterben kann.
Blicke auf Dein Kind hernieder
Das sich sehnt nach Deinem Licht,
Der Verlorne naht sich wieder,
Geh mit ihm nicht ins Gericht.
Da erbraußt im nahen Dome
Feierlich der Orgel Klang
Und im majestätschen Strome
Schwingt sich auf der Chorgesang:
„Herr, nun lässest Du in Frieden
Deinen Diener [zu Dir] schlafen gehn
Denn sein Auge hat hienieden
Deinen Heiland noch gesehn.“
Und der Priester legt die Hände
Segnend auf des Todten Haupt.
„Selig ist, wer bis ans Ende
An die ewge Liebe glaubt.
Selig, wer aus Herzensgrunde
Nach der Lebensquelle strebt
Und noch in der letzten Stunde
Seinen Blick zum Himmel hebt
Suchtest Du noch im Verscheiden
Droben den Versöhnungsstern,
Wird er Dich zur Wahrheit leiten
Und zur Herrlichkeit des Herrn.
Darum gilt auch Dir die Freude,
Die uns widerfahren ist;
Denn geboren wurde heute
Auch Dein Heiland Jesus Christ!“
1 Karl May: Mein Leben und Streben, Karl-May-Gesellschaft, Primärliteratur Band I, S. 128
2 365 Tage Karl May: Eine biografische Jahresschau, S. 54
3 Karl May: Der Sohn des Bärenjägers, Karl Mays Werke, S. 35803 (vgl. KMW-III.1-184:39, S. 603)
4 Karl May: Durchs wilde Kurdistan, Karl Mays Werke, S. 42666 (vgl. KMW-IV.2, S. 265)
© Jörg Joachim Riehle