Seit 1993 begleite ich Stummfilme musikalisch an der Kinoorgel. Zusammen mit Robert Ducksch habe ich die Renaissance der Kinoorgel in Berlin gestartet. Damals überlebte die Tradition der Stummfilmbegleitung in Berlin vor allem Dank Willy Sommerfeld (1904-2007), der regelmäßig im Kino Arsenal oder z.B. in der UFA-Fabrik Stummfilme am Klavier begleitete.
Durch Michael Falkenstein hatte ich das Glück, den damals fast 100 jährigen Willy Sommerfeld und seine Frau Doris kennenzulernen. Oft waren wir bei ihnen zu Gast in der Uhlandstraße und zwei Mal durfte ich für Willy Sommerfeld zum Geburtstag spielen. Von ihm habe ich gelernt, wie effektvoll eine Melodie in tiefer Lage sein kann. Die Kinoorgel bezeichnete Sommerfeld übrigens als Heulboje, womit er die Tremulanten meinte, die den Luftdruck perodisch verändern und für einen Vibrato-ähnlichen Effekt sorgen.
Sommerfeld war ein genialer Improvisator und hatte dank seiner Kapellmeister-Ausbildung auch das ganze klassische Repertoire im Kopf, das er jederzeit in allen Tonarten abrufen konnte.
Als mich die damalige Direktorin des Musikinstrumenten-Museums, Prof. Dr. Dagmar Droysen-Reber 1993 bat, den Stummfilm "Die Austernprinzessin" in der "Langen Nacht der Museen" zu begleiten, hatte ich großen Respekt vor dieser Aufgabe.
Meine Improvisationsfähigkeit war beschränkt, ich wollte deshalb lieber bereits vorhandene Musikstücke für den Stummfilm nutzen. Diese Methode war in der Stummfilm-Zeit durchaus üblich. Ein Orchester konnte nicht improvisieren, deshalb stellte der Kino-Kapellmeister aus dem vorhandenen, zumeist romantischen Musik-Repertoire eine "Kompilation", d.h. eine Musik-Auswahl zum Film zusammen.
Um die Filmmusik zu "Die Austernprinzessin" zu erstellen, brachte mir der Erfinder der "Langen Nacht der Museen", Wolf Kühnelt, persönlich den SW-Film auf einer 16mm-Kopie und einen 16mm-Filmprojektor nach Hause. Um den Film nicht endlos abzuspielen oder vielleicht sogar zu beschädigen, notierte ich mir die Szenen-Längen und konnte so die Musik anpassen.
Für eine Hauptperson des Films, den amerikanischen Austernkönig Mr. Quaker, benutzte ich den Marsch "Stars and Stripes Forever" von Joseph Philip Sousa.
25 Jahre später sah ich den Film vertont im TV . Ich weiß leider nicht, welcher Kollege den Film vertonte, aber für die Musik zu Mr. Quaker hatte er genau dieselbe Idee wie ich. Zu manchen Filmszenen gibt es anscheinend nur "die eine" passende Musik.
Dasselbe erlebte ich später auch bei Murnaus Klassiker "Der letzte Mann".
Eine große Hilfe bei Fragen der Stummfilmbegleitung war mein amerikanischer Freund Robert "Bob" F. Vaughn (1911-2002). Er spielte noch live zum Stummfilm zwischen 1927 und 1930. Später arbeitete Bob bei der amerikanischen Einwanderungsbehörde, begleitete Stummfilme in San Francisco an der Kinoorgel, z.B. im Castro Theatre und spielte bei Stummfilmfestivals.
Von ihm erhielt ich viele kleine originale Stummfilm-Musikstücke, die in Deutschland nicht erhältlich waren. Stücke von Domenico Savoni, Gaston Borch, Erno Rapée, William Axt oder J. S. Zamecnik. Heute kann man Zamecniks Stummfilm-Musik ohne Probleme in der Petrucci Music Library im Internet unter https://imslp.org finden und downloaden.
Von Bob Vaughn stammt auch der Tip für die Musik zur Hauptperson von Murnaus "Der letzte Mann". Viele Szenen mit dem alten Hotelportier, gespielt von Emil Jannings, begleitete Vaughn immer mit dem "Kaiserwalzer" op. 437 von Johann Strauss, Sohn.
Ca. 20 Jahre später fand ich den Musik-Geschmack von Bob Vaughn literarisch von Krimi-Autor Raymond Chandler bestätigt. Chandler schrieb in Erpresser schiessen nicht über den Walzer: "Er beugte sich sanft hinüber und drehte am Radioknopf. Ein Walzer nahm Gestalt an in den Klängen. Ein kitschiger Walzer, aber ein Walzer...........Das ist der Walzer, den das Orchester immer spielte, wenn der alte Portier vor dem Hoteleingang auf und ab ging, seine sämtlichen Orden an der geschwellten Brust. Der letzte Mann. Emil Jannings."
Bob Vaughn erklärte mir seine Art der Vertonung: "I prefer to base my film scores on music written for the films from 1914 - 1929....but so many of the young people seeking to play silent movies use no music at all - preferring to play along in the dark, making up things as they go along. Some are good - but usually we hear the same cliches time after time - but such players like to pretend they are creating their own original scores.....I have, happily - a lot of good music written for silent films. I like to use much of it and give credit where credit is due."
1993 gab es noch kein youtube, die Murnau-Stiftung hatte ihr Stummfilm-Archiv noch nicht digitalisiert, nur wenige Stummfilmklassiker waren auf VHS und ab 1997 auf DVD erhältlich, für Kopien von Stummfilmen auf VHS zum Zweck der Vertonung verlangte die Murnau-Stiftung eine aberwitzige Gebühr von 2000 Mark, was viele schöne Stummfilm-Projekte scheitern ließ.
Filmrestaurierung sollte eigentlich den Film in seiner originalen Gestalt wiederherstellen. Stattdessen sieht man vor dem originalen Film-Titel einen modernen minutenlangen Vorspann mit unzähligen modernen Logos und Archivdaten in moderner Schrift, was von der originalen Fassung ablenkt.
Oft werden bei der Restaurierung aus dem Rohmaterial des Films doppelt gedrehte Szenen aneinander gereiht, um vorhandenes Originalmaterial wieder zu zeigen. So entstehen manchmal Schnittfehler, die im Original wahrscheinlich nie vorhanden waren (z.B. in "der Geiger von Florenz" oder "Die Frau nach der man sich sehnt"). Heutzutage sind glücklicherweise viele Stummfilmklassiker in voller Länge auf youtube zu finden, manchmal sogar auch weniger bekannte Stummfilme.
Viele Stummfilm-Musiker kennen die alten SW-Filme besser als jeder Filmwissenschaftler. Weil ich als Stummfilm-Musiker seit 1993 NOSFERATU begleite, entdeckte ich z. B., daß Murnau und sein Lebensgefährte und Assistent Walter Spies im Film als Statisten mitwirkten: In einer Szene gegen Ende des Films ist Murnau zusammen mit seinem Lebensgefährten und Assistenten Walter Spies zu sehen. Sie lauschen entsetzt dem Bericht einer alten Frau, die ihnen vom Bösewicht Knock erzählt, der den Gefängniswärter erwürgte. Um in der kurzen Szene mit Spies und der Frau auf gleicher Höhe zu agieren, beugt sich Murnau tief zu ihr herab, denn seine imposante Erscheinung überragte normalerweise alle Gesprächspartner um eine Kopflänge - Murnau war 1,93m groß.
Im Film "Der Geiger von Florenz" von Paul Czinner war ich von einer Film-Location fasziniert und konnte herausfinden, dass das letzte Viertel des Films im Park der Villa La Pietra in Florenz gedreht wurde.
Die Villa La Petra ist Eigentum der University of New York. Die Leitung der Universität in Florenz war von meiner Entdeckung begeistert und ging sofort auf meinen Vorschlag ein, eine Open-Air-Vorführung des Films am Original-Schauplatz mit meiner Live-Musik zu zeigen.